Reflexionen zu Industrie 4.0 anlässlich der IT2Industry – der Internationalen Fachmesse und Open Conference für digitale und vernetzte Arbeitswelten
Die vom 21. – 24. Juni in München veranstaltete IT2Industry stand ganz im Zeichen der Digitalisierung der industriellen Produktion und bündelte demgemäß Produkte, Lösungen und Services rund um das Industrie 4.0-Zeitalter. Vordenker, Experten und Unternehmen präsentierten z.T. live die aktuellsten Entwicklungen im Bereich Automatisierung, Fertigung und Produktion in Richtung Industrie 4.0, parallel dazu fanden Diskussionsforen rund um das Thema statt. Harald Dittmar, Präsidiumsmitglied des BITMi und Geschäftsführer der syspro, war dabei.
Herr Dittmar, welche Eindrücke haben Sie mit nach Hause genommen?
Der Gang über die Messe war schon sehr informativ. Natürlich erwartete einen viel Bekanntes, aber auch Einiges an neuen Impulsen. Interessant für mich war – neben der guten Praxisnähe der Messe – die Möglichkeit des Austausches über Visionen, Möglichkeiten, Vorteilen, aber auch Nachteilen, Vorbehalten und Risiken von Industrie 4.0. Der Grund meines Besuches war es dann auch, an einer Podiumsdiskussion zum Thema Industrie 4.0 und Mittelstand teilzunehmen. Dieser Gedankenaustausch war und ist auch weiterhin wichtig und nötig. Er zeigte, dass noch viele Fragen offen sind und wir am Anfang einer Entwicklung stehen, über die wir vielleicht noch selber bestimmen können.
Wie positioniert sich denn der Mittelstand zu Industrie 4.0?
Die Position des Mittelstandes ist eher reaktiv. Was sehr schade ist, da damit auch manche Innovation auf der Strecke bleibt. Hier hilft auch die bloße Feststellung, dass der Mittelstand nicht für 4.0 gerüstet ist, nicht wirklich weiter. Man sollte auch die Ursachen benennen und ihnen im Sinne einer aktiveren Mitgestaltung begegnen. Am wenigsten nützt hier eine Argumentation, die ohne Industrie 4.0 sämtliche Wettbewerbsfähigkeit in Frage stellt. Sie ist kontraproduktiv und führt zu noch mehr Skepsis, denn viele Unternehmen fühlen sich dadurch eher unter Druck gesetzt. Da für den typischen Mittelständler Produktivitätssteigerungen mit Lean-Produktion auch ohne hohes Investitionsrisiko erreichbar sind, weiß er zwar um die Bedeutung von 4.0, sieht aber noch keinen Grund, sich damit zumindest zeitnah zu beschäftigen.
Weitere Thema, denen mittelständische Unternehmen sehr skeptisch besonders im Hinblick auf Big Data gegenüber stehen, sind übrigens Datensicherheit und Datenschutz. Und das auch zurecht, denn trotz der Datenskandale der jüngsten Zeit existiert nach wie vor keine umfassende diesbezügliche Gesetzgebung.
Wie kann man aus Ihrer Sicht dieser Skepsis begegnen?
Ich spreche hier – in meiner Funktion als Vertreter des BITMi und als CEO der syspro – aus Erfahrung: Es bringt nichts, mittelständischen Unternehmen komplexe Industrie 4.0-Prozesse „überzustülpen“. Hier müssen schlanke Lösungen und geeignete Cloud-Lösungen her, die einen sanften Übergang ermöglichen und sichere Abläufe versprechen. Der Mittelstand verfügt zum größten Teil weder über das nötige Know-How noch über eine entsprechende technische und finanzielle Basis für 4.0 und legt zunächst den Focus auf kleine Schritte und den Ausbau bereits bestehender Maschinen und Anlagen. Hier geht es in erster Linie also zunächst um eine Automatisierung und Optimierung von Produktionsprozessen und um Möglichkeiten, einen vertrauensbildenden Einstieg in die Materie zu schaffen und nicht gleich um die Änderung ganzer Geschäftsmodelle.
Wie ist Ihre Meinung zu „Industrie 4.0“?
„Industrie 4.0“ ist ein auf Initiative der Bundesregierung in 2011 in Deutschland auf der Hannovermesse geprägter Begriff. Dabei sollte mit der Ziffer „4.0“ ein Bezug zum Begriff „4. Industrielle Revolution“ gebildet werden um zu verdeutlichen, dass die Veränderungen gleichbedeutsam wie die Vorgängerrevolutionen 1.0, 2.0 und 3.0 sind.
Und mit diesem Anspruch habe ich so meine Probleme. Die drei Vorgänger haben jeweils etwas wirkliches Revolutionäres und vorher nicht Dagewesenes als Ausgangspunkt: während die 1. Industrielle Revolution ihren Anfang mit der Nutzung von Wasser- und Dampfkraft nahm, die 2. die die elektrische Energie entdeckte und die 3. in den 70er Jahre des 20. Jahrhunderts Elektronik und IT zur Automatisierung der Produktion einführte, ist die nun propagierte 4. Revolution doch eigentlich –zumindest aus technologischer Sicht – nur eine Fortführung dessen. Die Symbiose von industrieller Produktion und modernster Informations- und Kommunikationstechnik ist in meinen Augen eher evolutionär. Denn wo hört eine schlanke Produktion auf, wo fängt Industrie 4.0 an? Das ist keine Zäsur, das ist ein Prozess.
Ich bin davon überzeugt, dass sich die Produktion der Zukunft in Richtung 4.0 entwickeln wird und weiß als Geschäftsführer eines Unternehmens für prozessnahe IT-Lösungen, welches Potential dahintersteht, wenn IT, Produktion und Betriebswirtschaft Hand in Hand arbeiten. Die Frage stellt sich hier nicht nach dem pro oder contra, die Frage ist eher: wie schaffen wir die Voraussetzungen, damit 4.0 funktionieren kann? Was wir hier brauchen, ist nicht nur die Definition eines Ziels, sondern eine gehörige Portion Weitsicht, um dieses gesteckte Ziel auch erreichen zu können. Und, ganz wichtig: uns nur technologisch voranzubringen zu wollen, reicht nicht.
Für mich wird die ganze öffentliche Diskussion zu ingenieurslastig geführt. Der Begriff 4.0 beschränkt sich selbst zu sehr auf die Etablierung der „Smart Factory“ und lässt den Markt und alles, was außerhalb der Produktion liegt, außen vor. Während z.B. in Amerika das „Industrial Internet“ neben der Produktion auch andere Geschäftsfelder wie Dienstleistungen und Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette umfasst, ist der deutsche Ansatz eher auf technologische Konzepte und fabrikinterne technische Lösungen ausgerichtet.
Und: Industrie 4.0 kann nicht erfolgreich sein, wenn sie am Menschen vorbeientwickelt wird. Wir müssen sie auch sozial gestalten. Die Besorgnis, dass die menschliche Arbeitskraft nun durch die selbstdenkende Maschine ersetzt wird, ist durchaus berechtigt. Ob das – für meine Begriffe etwas zu schnell aus dem Ärmel geschüttelte – Argument, dass für die wegfallenden Arbeitsplätze ja schließlich hunderttausende neue in vielen neuen Geschäftsfeldern geschaffen würden, wirklich beruhigt, bleibt dahingestellt. Zumal es sehr widersprüchliche Angaben über das Zahlenverhältnis gibt.
Natürlich entstehen neue Berufsbilder, um die komplexe Vernetzung und die neuen Plattformen zu beherrschen. Aber damit einhergehend wird es neue Anforderungen an Ausbildung und Qualifizierung von Mitarbeitern geben. Diese bedingen aber ein Bildungssystem, das diesen neuen Anforderungen angepasst werden müsste. Hält unser Bildungssystem den zu erwartenden Herausforderungen stand? Oder werden und müssen sich auch die Unternehmen mehr in die Nachwuchsförderung einbringen? Ist die positive Einschätzung des ökonomischen Gesamteffektes, dass u.a. höhere Qualifizierung auch zu höheren Gehältern führt, auch zukunftsbeständig? Denn: wie wird seitens der Unternehmen mit dem durch Industrie 4.0 erwirtschafteten Mehrwert umgegangen?
Die technologischen Entwicklungen ziehen einschneidende Veränderungen in der Arbeitswelt und im Sozialgefüge nach sich. Sind wir in dem Maße darauf vorbereitet? Und welche Standards sollen gelten? Welche Kommunikationsnetze werden benötigt? Wie ist es um die Sicherheit der Anlagen bestellt?
Viele Fragen bleiben offen. Und es bleibt spannend.